Was lange währt, wird endlich.....

Georg stieg die letzten Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Die gute Laune drohte ihm aus dem Gesicht zu springen. „Heute ist mein Glückstag“, rief er, und hüpfte die allerletzte Treppenstufe rauf. Die alte Dame von nebenan spähte hinter dem Türspalt hervor: „Hat es geklappt?“ Statt einer Antwort kam Georg auf sie zu und wirbelte sie durch die Luft. Seine langen schwarzen Haare flatterten herum und die himmelblauen Augen funkelten froh und erleichtert. Die alte Dame, Frau Reichert, gratulierte und fragte mit einem Anflug von Schüchternheit: „ Darf ich zusehen ?“
Eine viertel Stunde später, ein Werkzeugkasten neben der Tür und den Schraubenzieher im Mund, schraubte Georg ein blankes Schild an seine Wohnungstür: Dr. Georg Leonberg.
„Sieht phantastisch aus! Ich bin stolz auf Dich, mein Junge. Dass ich das noch erleben darf.“
Frau Reichert freute sich mit Georg, auch wenn sie nur Nachbarn waren. Doch seit einigen Jahren war da mehr als nur Nachbarschaft. Erst selten, dann immer häufiger trafen sich die beiden zu einer Tasse Cappuccino, erzählten sich ihre Lebensgeschichte und lachten zusammen. Er war für sie eine Art Sohn geworden. Georg hatte aber auch ein Pech gehabt. Als er mit 22 einzog, hat er im Pub um die Ecke gejobbt, während er auf einen Studienplatz wartete. Die Miete kam immer zu spät, doch man muss jungen Leuten eine Chance geben. Schließlich starb auch noch sein Vater und der Mut sank. Die Lage erschien trost- und aussichtslos. Doch er hatte den Durchbruch geschafft. Georg hatte den Doktortitel in Physik bestanden und von nun an sollte es bergauf gehen.
Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt....
Nach einem leckeren Gläschen Sekt, sackte der frischgebackene Doktor in seinen Ohrensessel und sah die Post durch. Telefonrechnung, Reklame für einen neuen Pizzaservice, ADAC Zeitung und ... he was war das denn? Ein blauer Brief, ohne Absender? „Ist ja fast wie in der Schule“, lachte Georg und öffnete vergnügt den blauen Umschlag. Auf jegliche Art von Glückwünschen gefaßt, erstarrte er. Sein Unterkiefer klappte herunter und jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. „Das darf doch nicht wahr sein. Wie konnte das passieren? Ich hab’ doch nicht....“. Obwohl er seit einem halben Jahr nicht mehr rauchte, tastete er instinktiv seine Taschen nach einer Zigarettenschachtel ab. Er las den Brief ein zweites, ein drittes und auch noch ein zehntes Mal. Keine Frage, da stand es schwarz auf weiß:
  
 
       Sehr geehrter Herr Leonberg!

       Es tut mir leid, sie in dieser Angelegenheit zu belästigen, doch sind
       mir erst jetzt Beweise in die Hände gefallen, die darauf hinweisen,
       dass bei Ihrer Abiturprüfung vor zehn Jahren Betrug im Spiel war.
       Da ich diese Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen kann,
       bitte ich sie, am 15.04. um neunzehn Uhr, bei mir zu Hause die
       Mathematik- und Englischprüfung zu wiederholen.
       Bei Nichterscheinen ihrerseits, sehe ich mich gezwungen
       die Schulbehörde zu informieren.
  
                                          Mit freundlichen Grüßen,

                                          Uwe Bossmeier
  
  
„Unmöglich“, stammelte Georg. Dieser Brief kam vom Mond, oder vom Mars.
  
„Ich werde da nicht hingehen, einfach so tun, als hätte ich einen solchen Brief nie erhalten. Oder... Ich lass’ mir doch nicht meinen Doktortitel streitig machen... Soll der doch...“
  
Tränen der Wut stiegen in ihm auf. Eben noch auf dem Siegertreppchen mit dem leckeren Asti in der Hand, jetzt schon auf der Abschussliste. Er musste das verhindern. Egal wie. Ihm würde schon was einfallen. Es war der 15. April und ein Blick auf die Uhr verriet ihm: 18:45 Uhr. Da blieb keine Zeit mehr zum Überlegen. Heute war doch sein Glückstag und ausgerechnet heute musste dieses Unglück über ihn hereinbrechen. ‘Bossmeier weiss über alles Bescheid. Er will mich fertig machen’.
Wild entschlossen stieg er in seinen Volvo und raste mit 50km/h durch die Spielstraße. Das Gesicht rot vor Zorn und das Radio so laut, dass einem beinahe das Trommelfell platzte, parkte er vor Bossmeiers Haus. „Womit kann ich ihn erschlagen.... Wie kann ich ihn zum Schweigen bringen..... was soll ich tun....Mir die Zukunft von meinem alten Lehrer vermiesen lassen, jetzt wo alles so gut läuft.....Ist ein Zeugnis nach so langer Zeit überhaupt noch anfechtbar?....Vielleicht war das Ganze nur ein großes Mißverständnis..... Ach, mach Dir nichts vor..... Einbruch und unerlaubte Vervielfältigung sind keine Kavaliersdelikte.......Vielleicht sitzt du morgen schon auf der Straße oder im Knast, DR. Georg Leonberg...“ Tausend Gedanken schossen ihm in diesem Moment durch den Kopf, bevor er endgültig auf den messingfarbenen Klingelknopf drückte.
Doch als Uwe Bossmeier die Tür öffnete, wich Georg einen Schritt zurück. Sein alter Lehrer hatte noch immer diesen furchteinflößenden Blick drauf und die Stimme war noch immer so tief, rauh und mit einem listigen Unterton versehen, wie damals.
„Guten Abend, Herr Leonberg. Ich habe sie bereits erwartet. Kommen sie herein“, donnerte seine Stimme. Eingeschüchtert betrat Georg das spießig eingerichtete Wohnzimmer.
„Ja, ja Leonberg. Das war nicht schlecht damals. Doch nun wird es Zeit, dass sie zeigen, was sie wirklich auf dem Kasten haben. Wie konnten sie nur glauben, dass diese Geschichte nicht auffliegt?“
Eine unruhige Stille trat ein. Die Minuten erschienen endlos, bis Bossmeier sich erhob und Georg erklärte: „Ich bin ja kein Unmensch. Sie bekommen die Chance, ihren Fehler wieder gut zu machen. Unten im Partykeller finden sie Prüfungsaufgaben, Schreibzeug und weißes Papier. Sie haben genug Zeit um die Aufgaben zu lösen. Also verpatzen sie es nicht.“
Ohne ein weiteres Wort schlenderte Bossmeier in Richtung Kellertreppe. Georg folgte, gehorsam wie ein kleines I-Männchen, dem alten Lehrer. ‘Wie kann ich mich nur so unterbuttern lassen. Es ist wie früher. Dieses hämische Grinsen und der listige Tonfall, der schon damals alle Schüler einschüchterte und keinen Widerspruch duldete.’ Bossmeier wusste, dass er es nicht schaffen würde und ruinierte somit sein ganzes Leben.
Doch Dr. Georg Leonberg spürte keinen eigenen Willen mehr. Der sonst jede Situation meisternde Georg schaffte es nicht sich aus dieser Affäre zu ziehen. Er folgte Bossmeier und fühlte sich hundeelend.
Plötzlich kamen sie am Kamin vorbei und Georg hätte es fast nicht beachtet, doch der Schürhaken hing so verlockend da. ‘Das ist die Lösung aller Probleme ...  Ein Schlag auf den Kopf und meine Zukunft ist gerettet ..  Aber ich kann doch nicht...’
„Natürlich kannst du“, rief ihm eine innere Stimme zu. Hin- und her gerissen von Teufeln und Engeln in seinem Gewissen, ging er weiter, den Schürhaken unberührt lassend.
„Sie wissen, dass es schwierig wird, Leonberg. Diesmal haben sie keine Chance zu mogeln“, krächzte die raue Stimme lustig vor ihm.
 
Das war zu viel für Georg. Er lief zurück, zog den Schürhaken aus seiner Halterung, hieb ihn blitzschnell durch die Luft und schlug mit aller Kraft auf Bossmeiers Kopf. Der alte Pauker rollte die Kellertreppe hinunter und blieb regungslos liegen. Totenstille.
Georg fühlte seinen Puls. Nichts. Kein Puls, kein Herzschlag. Nichts mehr.
Er sprang auf und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Was hatte er getan? War er das gewesen? Das war bestimmt alles nur ein böser Traum. Aber was hätte er sonst tun sollen? Sich das Leben vermiesen lassen sollen? Es war richtig so...
Doch da war noch was. Die Prüfungsaufgaben. Sie mußten verschwinden. Und zwar schnellstens. Georg drückte die Klinke zum Partykeller herunter. Als er das Licht anknipste, gab es einen ohrenbetäubenden Knall, und dann lautstarkes Gejohle. Jemand drückte ihm ein Glas Sekt in die Hand. Er wurde umarmt, geküßt und beglückwünscht. Es war seine alte Klasse. Er erkannte Reinhardt, seinen ehemals besten Kumpel, der rief: „Wir gratulieren Dir herzlich zum Doktor. Wir wollten mit Dir zusammen auf Deinen Erfolg anstoßen. Georg, was schaust du denn so verstört? ....   Du bist doch nicht etwa sauer wegen des kleinen Scherzes mit der Abiturprüfung? Herr Bossmeier war so nett mitzuspielen. Wo ist er überhaupt?“
„Ich glaube, er kommt nicht mehr.“

 
 
Quelle: http://mitglied.tripod.de/liku12/lange.htm